Oliver Rath _ Esther Perband _ Womensday _ Esther's Blog

Oliver Rath _ Esther Perbandt _ Esther's Blog



IN EINER FEMINISTISCHEN UMGEBUNG AUFWACHSEN

Ich wurde im Frühjahr 1975 in Berlingeboren, einer Stadt, isoliert vom Kalten Krieg und geteilt durch die Mauer, die unser Leben in der Stadt geprägt hat. Dank des großen Mutes meiner Großmutter, die im letzten Moment inden anderen Teil der Stadt geflohen war, wurde ich in West-Berlin geboren. Sie floh mit ihrer im Wäschekorbversteckten Nähmaschine, die kleine Hand meines Vaters fest im Griff hintersich herziehend. West-Berlin war der Teil der Stadt mit dem Außenseiterstatus, von dem sich Kreative wie David Bowie, Iggy Pop und Lou Reed inspiriert und angezogen fühlten.

Es war der Ort, an dem die Menschen tun konnten, was sie wollten, ihre Meinung laut aussprechen, für ihre Rechte kämpfen und die Freiheit leben konnten, nach der sie sich sehnten. Ich denke, es ist einmalig in der Geschichte, dass es einen Ort gab, an dem junge Männer vom Militärdienst befreit waren. Die pädagogischen Methoden wurden neu definiert und die Menschen lebten diesexuelle Revolution und die freie Liebe: „Wer zweimal mit dem/der selben pennt, gehört schon zum Establishment“. Und natürlich war es ein Hot Spot der feministischen Bewegung.

Meine Kindheit und Jugend in den 70er und 80er Jahren wurde stark von meinen aufgeschlossenen Eltern beeinflusst, die starke Befürworter egalitärer Rechte und Inklusivität waren. Meine Schwester und ich sind ohne Fernseher groß geworden, statt dessen hatten wir viele andere nützliche Werkzeuge, wie eine riesige Kostümkiste, die meine Fantasie zum Blühen brachte, verschiedene Personas zu kreieren und zu erkunden, abhängig von den Outfit-Kombinationen, die mir zur Verfügung standen.

In einem sehr frühen Alter von vielleicht fünf Jahren nahm mich meine Mutter oft mit zu feministischen Bewegungen und Demonstrationen. Dort marschierte ich durch die Straßen, eine Hand in der meiner Mutter, die andere in der Hand einer unbekannten Frau in lila Latzhosen, das ultimative Symbol der feministischen Bewegung damals.

Ich erinnere mich, wie sehr ich meine Mutter hasste dafür, dass sie mich gezwungen hat, eines dieser schrecklichen Dinge (allerdings nicht in Lila) am Tag meiner Einschulung zu tragen, an dem ich so sehr davon träumte, ein Prinzessinnenkleid zu tragen, wie alle anderen Mädchen. Meine Kindheit und Jugend war geprägt von Frauen um mich herum, die davon überzeugt waren, dass eine Frau nicht stark, mächtig, intellektuell sein und die gleichen Rechte wie ein Mann erhalten kann, wenn sie ihr weibliches Aussehen mit High Heels, kurzen Röcken, Schmuck, Nagellack und Lippenstift unterstreicht. Dies war damals ein ziemlich radikaler Ansatz, der für mich nicht mehr in die aktuelle Zeit von heute passt. Feministinnen kämpfen heute an anderen Fronten - anders als die Generation unserer Mütter.

Meine liebe Mutter Hanna war nie eine Lady. Sie trug nie High Heels, sie hat nicht einmal ein einziges Paar besessen. Sie trug kaum Röcke oder Kleider und schminkte sich kaum. Ich glaube sie hat im Leben keinen BH besessen, vermutlich auch ein Relikt aus der Zeit damals. Diese Tradition wurde an mich weitergegeben, bis ich mit 42 Jahren die Schönheit meiner weiblichen Seite entdeckte und genoss, wie luxuriös es sich anfühlt, sich zarte Spitzenunterwäsche zu gönnen.

Während ich das alles hier auf Papier bringe, muss ich schmunzeln. Kein Wunder, dass meine Kollektionen die Menschen schützen und stärken sollen und den Träger sich sicher, selbstbewusst und stolz fühlen lassen soll.

An einem Tag, ich muss ungefähr 7 Jahre alt gewesen sein, kaufte sich meine Mutter Hanna zum ersten Mal Make-up. Es war so außergewöhnlich, dass ich mich daran erinnere, als wäre es gestern gewesen. Wie gesagt, sie hatte vor diesem Tag noch nie Make-up verwendet und die Zeiten, wo sie es danach tat, können an zehn Fingern abgezählt werden. Aber offensichtlich bestand an diesem einen Tag ein inneres Bedürfnis von ihr, sich weiblicher zu fühlen und dies auch sichtbar werden zu lassen. Also zog sie los in eines der besseren Kaufhäuser Berlins mit einer hochwertigen Kosmetikabteilung und kam mit einer winzigen edlen Einkaufstüte und einem enorm großen schlechten Gewissen zurück. Ich wusste sofort, dass etwas Besonderes in der Luft lag. Ich konnte es sehr deutlich fühlen, aber ich verstand ihre Zweideutigkeit nicht. Mit Spannung sah ich zu, wie sie die winzige Tüte auspackte. Wir standen in unserem kleinen Badezimmer und ich stellte mich auf die Toilette, um besser sehen zu können.

Es gab nicht viel Geld bei uns, meine Eltern waren damals noch Studenten. Alle Finanzen waren sehr genau geplant und jeder Cent wurde umgedreht. Und so stand meine Mutter da, hin und her gerissen zwischen dem quälenden schlechten Gewissen und diesem angenehmen Gefühl, endlich etwas wirklich Gutes für sich getan zu haben, nur für sie, um sich selbst zu belohnen. Das konnte ich ihr ansehen und wusste, dass der Inhalt dieser kleinen Tüte etwas ganz Besonderes sein musste. Etwas, das dir ein tolles Gefühl geben kann und für das man gegebenenfalls hart arbeiten muß. Aus dieser kleinen Tüten kamen folgende Dinge zum Vorschein:

Ein Kajal, eine Wimperntusche und ein Kajal-Anspitzer… Alles in einer wunderschönen, hochwertigen schwarzen Verpackung mit dem bekannten weißen CHANEL-Logo drauf.

Ich konnte meine Augen nicht davon ablassen.

Besonders der Anspitzer hatte es mir angetan, er war ebenfalls ganz in Schwarz mit der weißen Schrift CHANEL darauf. Sofort wollte ich auch so einen besitzen und seit diesem Tag stellte ich mir vor, eines Tages dieses besondere Stück von meiner Mutter zu erben. Hanna erkannte mein enormes Interesse. Und sofort gab es die Anweisung, ja nicht auf die Idee zu kommen, meine Schulstifte damit anspitzen zu wollen. Immer und immer wieder ging ich ins Badezimmer, um mir diesen wunderschönen schwarzen Kajal-Spitzer anzusehen. Dieses Objekt wurde zum Symbol für etwas aus einer anderen Welt, das nicht zu unserer und der Umgebung gehörte, in der ich aufwuchs. Aber etwas, das ich auf jeden Fall wollte, etwas, das es zu erreichen galt. Man will immer genau das haben, was man nicht hat.

Einige Wochen später sagte ich bei einem Spaziergang zu Hanna, dass ich reich und berühmt werden möchte. Sie war schockiert. Dies wäre das Letzte, woran sie denken oder wovon sie träumen würde. Vermutlich machte sie sich sofort Vorwürfe, was sie bloß in meiner Erziehung falsch gemacht hatte. Reich zu sein, diesen Wunsch konnte sie noch nachvollziehen. Denn ja, wir konnten uns nicht alles leisten. Aber es als Ziel zu haben, berühmt zu sein, klang für sie so absurd.

Viele, viele Jahre später, kurz bevor sie 2010 starb, bekam ich von Hanna eine kleine Notiz geschenkt mit der Aufschrift: reich, berühmt UND glücklich! In all den Jahren hat sie meine Aussage nie vergessen und letztendlich festgestellt, dass das Wichtigste auf meiner Wunschliste fehlte: glücklich zusein.

Danke Hanna!


Oliver Rath _ Esther Perbandt _ Esthers Armee



Diese zwei Fotos stammen von dem großartigen Fotografen und lieben Freund Oliver Rath (R.I.P.) Danke für Deine Freundschaft und die verrückten Portraits, die Du seit 2010 von mir gemacht hast. Seit Jahren träumte Oli immer davon, eine ganze "Esther-Armee" zu fotografieren. So hat er es genannt. Alle Models trugen Perücken mit meinem Haarschnitt, so wie ich es bei einer meiner großen Modenschauen inszeniert hatte. Beide immer super busy, haben wir es jahrelang immer wieder aufgeschoben. Glücklicherweise entschieden wir uns eines Tages, es einfach zu tun. Glücklicherweise, denn nur ein paar Monate später verließ Oli unseren Planeten. Vielen Dank für diese erstaunliche Armee von starken und stolzen Frauen.
Love big time

 

Fotografie: Oliver Rath